Fehlentwicklungen
Bei der
Entwicklung digitaler Medien muß stets die höchste Priorität der
eigentlichen Funktionalität zukommen, d.h., es ist immer wichtiger,
daß ein Produkt unter verschiedenen Bedingungen benutzbar ist, als
es mit nicht essentiellen Zusätzen auszustatten, welche das Spektrum
seiner Nutzbarkeit einengen. Die einzige Ausnahme stellen diejenigen
Fälle dar, in denen das Produkt von vornherein nur für die Benutzung
auf einzelnen individuell bekannten Geräten bestimmt ist.
Konkret
bedeutet dies, daß es ein Ausdruck technischer und gestalterischer Inkompetenz
ist, wenn man z.B. ein Anwendungsprogramm mit einem Design-Element
ausstattet, durch welches es seine Benutzbarkeit auf bestimmten
Betriebssystem-Versionen einbüßt oder gar eine neue Hardwarekomponente
benötigt. In der Praxis kommt es nicht selten sogar vor, daß
bereits die benutzte Entwicklungs-Software von vornherein Produkte
auswirft, die nur auf bestimmten Versionen einer Betriebssystem-Familie
lauffähig sind. Dies ist umso tragischer, wenn man sich klarmacht,
daß man ein ansonsten vollkommen gleichwertiges Produkt ohne diese
Einschränkung gewinnen könnte, hätte man sich vorher für eine geeignete
Entwicklungs-Software entschieden, die es in der Regel immer gibt. Eine
Folge ist das Auftreten peinlicher Produkt-Hinweise wie etwa "läuft
unter Betriebssystem-Versionen E und F", was soviel heißt
wie "läuft nicht unter Betriebssystem-Versionen
A, B, C und D", oder "optimiert für X-Technologie",
was in der Regel soviel bedeutet wie "ohne Anschaffung
eines neuen Gerätes mit X-Technologie völlig unbrauchbar".
Zu bedenken
ist auch, daß auf einem Entwicklungsrechner die für den reibungslosen
Betrieb des Produktes erforderlichen Hard- und Software-Komponenten
typischerweise installiert sind und daß diese auf dem einen oder
anderen Endnutzer-Rechner - vielleicht ebenso typischerweise - überhaupt
nicht vorhanden sind. Und auch der Hinweis "klicken Sie hier,
um die Komponente X herunterzuladen" vergrößert in Wirklichkeit
nur das Ausmaß an Peinlichkeit - abgesehen davon, daß
es sich bei diesem Versuch, eingesparte Entwicklungsarbeit wie selbstverständlich
dem Endnutzer zuzuschieben, eigentlich um eine Unverschämtheit handelt.
Ein
besonderes Thema stellen die Computer-Betriebssysteme dar. Sinn
und Zweck eines Betriebssystemes ist es, den Computer in die Lage
zu versetzen, Anwendungsprogramme ausführen zu können. Eine neue
Betriebssystem-Version muß selbstverständlich in erster Linie die
Lauffähigkeit der bisher verwendbaren Programme gewährleisten und
muß sowohl für ältere, als auch für neue Hardware geeignet sein.
Eine Beeinträchtigung dieser Grundfunktionen kann nur für den Einsatz
auf Spezialsystemen gerechtfertigt werden. Ansonsten kann das Urteil
nur lauten: "Thema verfehlt - setzen! - Sechs!".
Und auch hier machen irrwitzige Versuche, z.B. mit Zusatzfunktionen,
die denen der eigentlichen Anwendungsprogramme laienhaft nachempfunden sind,
über die verstümmelte Brauchbarkeit des Produktes hinwegzutäuschen,
alles nur noch schlimmer. Fügt man dann noch ein paar völlig überflüssige
kindische (aber den Rechner belastende) visuelle Effekte hinzu,
ist man schnell bei einem überteuerten viertklassigen Computerspiel
gelandet, das Welten von einem Betriebssystem entfernt ist...
In der
Praxis ist es heute leider so, daß sich der digitale Markt mit seinen
kontinuierlichen - für den Entwickler mitunter recht lukrativen
- technischen und gestalterischen Fehlentwicklungen eindeutig zum
Nachteil des Endverbrauchers entwickelt. (In der Hardware-Branche
ist es ja bereits soweit gekommen, daß es heute der Endnutzer ist,
der nachträglich unentgeltlich einen der aufwendigsten Prozesse
der Produktion durchführen muß, nämlich die Produkt-Endkontrolle.)
Um aus
dieser Entwicklung auszubrechen, erfordert es auf der Entwicklerseite
nur ein paar Gedankengänge mehr und ein paar Geldstücke weniger
- und dies ist durchaus machbar...
Thomas
Haase
Abbilden
der realen Welt ist keine digitale Kunst
Mit der
elektronischen Revolution wurden auch die künstlerisch-gestalterischen
Möglichkeiten grundlegend erweitert. Wer als schöpferisches Individuum
einen geistigen Zugang zu dieser neuen Welt gefunden hat, der erkennt
und nutzt ihre geradezu unbegrenzten Möglichkeiten des Entwickelns
und Gestaltens.
Für einen
Außenstehenden mag der markanteste Unterschied zwischen klassischen
Druck-Erzeugnissen und den neuen digitalen Medien darin bestehen,
daß letztere die Möglichkeit der Animation und Interaktivität bieten. Tatsächlich
aber ist der entscheidende Unterschied der, daß bei den klassischen
Druck-Erzeugnissen (wie auch bei den Filmen und Tonaufnahmen) die
Grundelemente Abbildungen der realen Welt sind, also in den meisten
Fällen photographische Abbildungen real existierender Personen,
Gegenstände, Gebäude oder Landschaften. Auch bei den klassischen Zeichentrickfilmen
handelt es sich um Abbildungen real existierender Zeichnungen, und selbst viele
moderne Computer-Trickfilme basieren auf eingescannten Gipsmodellen.
Anklicken
für ein Beispiel.
Bei den neuen
digitalen Medien sind die Grundelemente jedoch typischerweise Abbildungen
einer rein virtuellen Welt, wie es vor der elektronischen Revolution
noch undenkbar war.
Anklicken
für ein Beispiel.
So läuft
etwa der Web-Designer heute nicht mehr mit der Kamera durch die
Gegend, sondern sitzt konzentriert an seinem Computer und berechnet
die Eigenschaften einer virtuellen Welt, welche nur in seinem Kopf
und seinem Computer existiert, um von dieser dann - ebenfalls mit
demselben Computer - die gewünschten Abbilder zu erstellen. Bild
und Ton werden nicht mehr eingefangen, sondern durch Vorstellungskraft
und technisches Wissen aus dem Nichts erschaffen.
Entsprechend
umfangreich sind daher auch die Voraussetzungen, die ein im digitalen
Bereich schöpferisch Tätiger mitbringen muß. Es genügt nicht mehr,
aus bloßen Abbildern der realen Umgebung etwas "Neues"
zusammenzubasteln. Jetzt muß man alles von Anfang an selbst entwickeln.
Dies aber erfordert eine wesentlich höhere Kreativität, ein wesentlich
besseres Vorstellungsvermögen sowie umfangreiche Kenntnisse der
Mathematik, Physik, des Programmierens und weiterer Disziplinen
wie etwa der Musikkomposition.
Wer dies
nicht bieten kann, dessen digitale Produkte werden im Grunde nichts
weiter sein als animierte, interaktive Druck-Erzeugnisse, im schlimmsten
Fall also z.B. ein Website, der einfach aus bearbeiteten Photographien
und Texten zusammengesetzt ist.
Thomas
Haase
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